SMiLE - die BDSM-Gruppe für Leipzig und Nordsachsen
SMiLE - die BDSM-Gruppe mit Tradition für Leipzig und Nordsachsen


Interview mit Dr. rer. nat. habil. Dipl.-Psych. Kurt Seikowski (Universität Leipzig)

Herr Seikowski, bevor ich in die Thematik einsteigen möchte, würde ich Sie bitten, kurz ein paar Worte zu ihrer Person zu sagen.

1974-79 studierte ich Medizinische Psychologie und Philosophie in Leningrad. 1979-83 war ich als wiss. Mitarbeiter am Fachbereich Psychologie der Universität Leipzig tätig und bin seit 1983 als wiss. Mitarbeiter an der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie sowie der Andrologischen Abteilung der Universität Leipzig angestellt. Seit 2000 bin ich Vorsitzender der Gesellschaft für Sexualwissenschaft e.V.

Meine Forschungsschwerpunkte sind die Psychosomatik der Haut, Männer und Midlife-Crisis sowie Transsexualität. Als weitere Arbeitsschwerpunkte sehe ich die (vorwiegend männliche) Sexualität im Allgemeinen sowie den Bereich Sexualität in den Medien. Im Moment erstreckt sich mein Arbeitsbereich, neben der Forschung, auf die psychologische und psychotherapeutische Therapie von vorwiegend männlichen Patienten.

An welchen aktuellen Forschungsprojekten sind Sie beteiligt, und können Sie diese kurz erläutern?

Im Moment erforschen wir gerade den Zusammenhang von Stress, Gewicht und Zeugungsfähigkeit beim Mann. Wir haben bis jetzt feststellen können, obwohl dieses Projekt noch eine Weile läuft, dass übergewichtige Männer wesentlich schlechtere Spermienqualitäten aufweisen und mit steigendem Gewicht auch diese schon schlechte Spermienqualität noch weiter absinkt. Ebenso negativ wirkt sich Stress auf die Spermienqualität aus.
Vor kurzem abgeschlossen haben wir ein Projekt, welches sich mit Pädophilie beschäftigte. Hier konnten wir unter anderem nachweisen, dass diese nicht im Zusammenhang mit der genossenen Erziehung steht. Veröffentlichungen folgen.


Wie sind Sie auf die Idee gekommen im Bereich BDSM, um den es hauptsächlich gehen soll, Forschungsprojekte anzuregen? Haben persönliche Interessen eine Rolle gespielt?

Persönliche Interessen spielten keine Rolle. Auf die "Idee" kam ich durch meine vielen Patienten. Bis vor 10 Jahren kamen noch deutlich mehr Männer und Frauen mit einer Vorstellung derartiger "sexueller Szenarien" und dem Wunsch diese auszuleben, die sich dann aber selbst doch für pervers hielten oder durch die Gesellschaft als pervers stigmatisiert wurden. Sie waren ratlos, konnten sich mit sich selbst nicht mehr identifizieren und suchten nach therapeutischen Möglichkeiten zur Lösung ihres "Problems". Im Übrigen waren alle diese Patienten psychopathologisch unauffällig. Zum Teil kamen auch Ehepaare in die Sprechstunde. Beispielsweise entsinne ich mich an ein Paar, bei dem er gern komplett gefesselt werden wollte, sie aber mit seinem Wunsch gar nichts anfangen konnte. In mehreren Sitzungen erörterten wir seinen Wunsch und versuchten bei ihr Akzeptanz und Toleranz zu hervorzurufen und zu verstehen, dass für ihn dieser Gedanke durchaus lustvoll sein kann. Nun man sollte niemandem irgendetwas aufzwingen, wenn er oder sie sich absolut nicht damit identifizieren kann, aber oftmals hilft es schon, wenn man einfach noch mal darüber spricht.
Aber wie gesagt, diese Patienten hatte ich noch bis vor 10 Jahren. Heute findet man kaum noch Personen, die sich für therapiebedürftig halten bezüglich dieser sexuellen Neigung, da mittlerweile eine Normalisierung eingetreten ist. Das Internet hat da einen unheimlich hohen Teil dazu beigetragen. Ein Betroffener bzw. eine Betroffene kann sich heute im Internet informieren, mit anderen kommunizieren und sich auf diversen Plattformen produzieren. Er oder sie merkt schnell, dass es da noch mehr gibt, die auch so denken, und schon ist der Krankheitsgedanke entschwunden und man hat eine Art Selbsthilfe initiiert. Durch die Möglichkeit, auch Bilder seiner bisher nur im Kopf existenten sexuellen Szenarien zu betrachten, kann dann auch der Gedanke reifen, sich einmal selbst auszuprobieren und auch dann bieten sich heutzutage viele Möglichkeiten, sei es nun der Besuch einer Party mit solchen Angeboten oder auch Treffen mit Chatpartnern/-partnerinnen.


Wo ist die Grenze für Sie zwischen "normalem" Sex und SM?

Nun, generell ist es wichtig, dass sich beide Partner einig sind und es lustvoll für beide ist. Wo da die Grenzen sind, ist sehr individuell. Ich denke es ist in jedem Falle krankhaft, wenn der Sadist sein Gegenüber nur noch als Objekt betrachtet und nur noch diese Form sexueller Szenarien wünscht oder sich als Befriedigung seiner Lust vorstellen kann. Vergleichen Sie es mit einer Brust-OP. Männer wollen große Brüste und reduzieren ihre Freundin nur noch darauf. Sie können nicht mehr mit ihr schlafen oder kuscheln, weil sie eben vermeintlich zu kleine Brüste hat und sie deshalb nicht mehr sexuell erregt werden. Sie lässt sich operieren, und prompt ist sein Problem gelöst und er findet sie wieder begehrenswert. Diese Form der Objekt-Werdung ist gefährlich.

Mir ist es wichtiger, dass man bei der Definition auf die Begriffsvielfalt achtet. So unterscheide ich mindestens drei Formen des Sadismus/Masochismus, die man dann auch unterschiedlich betrachten muss, die sich vermischen, aber auch völlig separiert auftreten können.
Es gibt (1) den sexuellen Sadismus/Masochismus, auf den Sie sicherlich anspielen. Hier gibt es feste Absprachen, beide Partner leben ihre Bedürfnisse freiwillig und einvernehmlich aus und empfinden Lust an dem, was sie tun. Dann gibt es den (2) Sadismus/Masochismus, der der Entspannung dient. Hier geht es vornehmlich beim Sadisten um die Befriedigung seines Machtbedürfnisses und die Inkaufnahme einer Schädigung der anderen Person. Diese Form kann zum Teil schon in Richtung Perversion gehen. Das kann nachweislich erziehungsbedingt entstehen, wenn Personen in frühester Kindheit die Erfahrung gemacht haben, dass man Konflikte zur Linderung eigener innerer Anspannung mit Gewalt lösen kann. Und es gibt (3) den Sadismus/Masochismus, der als Perversion verstanden wird. Hiermit sind die Ausprägungen gemeint, die therapiebedürftig sind, denn es geht dem Sadisten um die bewusste, mutwillige Schädigung des Gegenübers, ohne dessen Zustimmung.


Wo sehen Sie hier Ursachen?

Der Sadist zieht seine Befriedigung aus der Qual des Gegenübers, dem Anblick seines Leides. Beispielsweise zieht jemand, der andere Menschen tötet, was durchaus als Perversion verstanden wird in dieser Form, seine sexuelle Befriedigung nicht aus vorherigen Missbrauch des Opfers, sondern rein aus dem Tötungsakt. Die Rechtfertigung oder Ursache kann nun bei beiden sein, dass sie ihre "Tat" als Ausgleichshandlung verstehen. Sie fühlten sich beispielsweise provoziert vom Gegenüber und müssen nun Strafe lehren. Ebenso kann der Schädigungswunsch aus Kindheitstraumata entstanden sein. Beispielsweise trifft man immer wieder auf Betroffene, besonders männliche, die als Kind missbraucht oder vergewaltigt wurden und nun versuchen, ihre Männlichkeit durch derartige Handlungen wiederherzustellen. Auch das Verspritzen vom Sperma, beispielsweise ins Gesicht, ist Ausdruck des Wunsches, die eigene Männlichkeit, die ihnen geraubt wurde, zu beweisen.
Ebenso verhält es sich bei Demütigungen. Die Person, die eine andere demütigt, will die eigene Stärke und Überlegenheit beweisen. So verhält es sich auch bei Exhibitionisten. Sie suchen nach dem "Kick", der allerdings nicht darin besteht, sich den anderen zu zeigen, sondern erschrockene Gesichter sowie Angst hervorzurufen und die eigene Überlegenheit zu demonstrieren. Ähnliches kann man beim Affen beobachten.


Wie beurteilen Sie die Einführung der personenbezogenen Diagnose nach ICD-10 (2004) mit den Schlüsselnummern F65.5 Sadomasochismus, F65.0 Fetischismus und F65.1 fetischistischer Transvestitismus, usw.?

Nun, diese Änderung begrüße ich nicht, und leider ist aber auch keine Streichung oder Änderung in naher Zukunft geplant. Europa ist konservativ und es wird eher noch "variationsfeindlicher", als dass man sich auf Lockerungen diesbezüglich einlässt. In Zukunft denke ich, werden wir noch viel detaillierter ausdifferenzieren und die Tabelle wird sich stetig erweitern, weil sich die Toleranz verändert.
Ich verweise aber auf das DSM-IV, in dem man diese Untergruppen wieder herausgenommen hat als eigene Schlüssel und nur noch zusammenzählt unter dem Schlüsselbegriff "Paraphilie", der dann eher auch auf die Variation des Sadismus/Masochismus als Perversion abzielt. Kriterien zur Einstufung sind beispielsweise die über sechs Monate hinausgehende Wiederkehr von Gedanken, die sich um die Schädigung einer anderen Person drehen - das Kriterium wäre im Allgemeinen erfüllt bei Sadisten - sowie das Auftreten eines Leidensdruckes, der durch das Nicht-Ausleben verursacht wird - dieses Kriterium wird meist nicht erfüllt, denn Sadisten der SM-Szene leben nur eine weitere Form ihrer Sexualität, sie besitzen aber durchaus auch eine "normale" Sexualität. Wenn sich jemand allerdings vordergründig mit diesen Gedanken trägt und sich nur noch diese Form sexueller Szenarien des Schädigens vorstellen kann, wäre es schon fast wieder therapiewürdig und sollte hinterfragt werden.


Kann die spürbare Wachstumsrate des SM-Kreises zahlenmäßig belegt werden, werden es stetig mehr Menschen, die ihre derartige Sexualität ausleben?

Wissenschaftliche Belege gibt es nicht, aber es ist beobachtbar, dass Communities im Internet stetig wachsen. Dies hängt zum einen mit Neugier zusammen - die Menschen wollen etwas Neues erleben -, und zum anderen könnte ich mir vorstellen, dass gerade Frauen, aber auch immer mehr Männer diese sexuellen Szenarien ausleben, weil sie "ungefährlicher" sind als normaler Geschlechtsverkehr - das Schwangerschaftsrisiko ist gleich Null, denn es muss beim SM nicht zwangsläufig zum Sex kommen. Dieser Trend kommt aus Amerika, hier geht man mit so was viel offener um und so hat sich vor Jahren schon der Begriff des Petting etabliert. Die übliche Szene: man hat lang gefeiert, jemanden kennen gelernt, möchte sexuelle Befriedigung und um das Schwangerschaftsrisiko zu mindern befriedigt man sich nur oral oder manuell. Beide können ihren Orgasmus haben ohne Konsequenzen. So ähnlich könnte ich mir das auch in der Szene vorstellen.

Woher, glauben Sie, kommt die Neigung zum Masochismus/ Sadismus? (Pränatale Ereignisse, Familie, Erziehung, gesellschaftliche Bedingungen, Selbstgeißelung,??)

Dazu gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, wenn dann vermutliche vorgeburtliche Ereignisse.

Theorien?

Die sicherlich. Um nur mal einige zu nennen:
(1) Dieses Verhalten ist naturgegeben. Die Frau ist schon immer devot und weil die Emanzipation aus dem Ruder gelaufen ist, braucht die Frau nun wieder die Qual, um ihres Platzes verwiesen zu werden.
(2) Der Sadismus ist naturgegeben. Der Mann muss seine Dominanz und Männlichkeit durch das Erniedrigen und Schlagen der Frau beweisen.
(3) Fesselungen verkörpern den Wunsch nach Passivität. Diese Wünsche werden häufiger von besonders aktiven Menschen geäussert, die sich fallen lassen, einfach mal ganz passiv und regungslos verweilen wollen. Diese Wünsche werden häufiger von Männern geäußert, die im Alltag eher aktiv sein müssen und als stark gelten. Sie wünschen sich dann eine Einschnürung, die gar keine Regung zulässt, auch nicht die ihrer Männlichkeit.


Es gibt auffällig viele MasochistInnen mit Persönlichkeitsstörungen/Borderline/... Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dieser Form der Sexualität und diesen Störungen? Sind nicht betroffene MasochistInnen dann pathologisch oder wie erklären Sie sich deren "Verirrung"?

Generell muss ich Ihnen widersprechen, es gibt nicht mehr Personen in der SM-Szene, besonders auf Seiten der MasochistInnen, als in anderen Szenen auch. BorderlinerInnen - das heißt ja "an der Grenze" -, beispielsweise versuchen ja durch Selbstqual ihre Schuldgefühle abzubauen, sie ritzen sich, um Druck abzubauen. Bei BorderlinerInnen, die sich selbst auch als MasochistInnen im sexuellen Sinne bezeichnen, findet man aber weniger die sexuelle Lust und Befriedigung, wenn sie sich verletzten oder demütigen lassen, das ist mir nicht bekannt. Generell ist Borderline in Verbindung mit Masochismus im sexuellen Sinne untypisch, denn Menschen mit dieser Störung versuchen Schuldgefühle zu kompensieren und schlechte Erfahrungen zu verarbeiten - sie befriedigt die Qual selbst. Eine reine Masochistin bzw. ein reiner Masochist hingegen verspürt sexuelle Erregung, wenn sie verletzt, gequält oder gedemütigt wird.

Norbert Elb beschreibt in seinem Buch "SM-Sexualität" eine besondere Häufigkeit von gewissen Berufsgruppen in der Szene. Sehen Sie das ebenso? Wenn ja, welche Berufsgruppen sehen Sie besonders gehäuft und wie erklären Sie sich dies?

Nun, ich würde es nicht gesondert an Berufgruppen festmachen. Es gibt wohl eine Häufung bei Ärzten und Pflegepersonal, aber das hängt wohl damit zusammen, dass sie sich berufsbedingt eher damit auseinandersetzen und offener damit umgehen. Das Outing fällt hier wohl leichter, weil ja alle gleich sind, in ihrer Arbeitsuniform, wenn ich mal so nennen darf.

Wie würden Sie die Altersstruktur der Szene beschreiben?

SM findet wohl hauptsächlich zwischen 30 und 55 Jahren statt. Vorher ist die Sexualität vielfältig und abwechslungsreich und man ist zufrieden, dann lässt die Abwechslung nach und man sucht nach Neuem. Später dann lassen die Hormone nach, Sex rückt in den Hintergrund, denn die Frau hat mit ihrem Beruf, der jetzt mehr schlaucht als früher, und der Familie genug zu tun und genießt ihren wohlverdienten Mittagsschlaf, und der Mann orientiert sich um und findet Sex unwichtiger und kann auch ohne ihn gut leben. Den "Kick" suchen Menschen zwischen 30 und 55 Jahren und dann eben auch manchmal in dieser Szene.

Vielen Dank.

(Das Interview wurde am 24.07.2007 von Anna (Seelenkind) geführt.)